Auf der rechten Seite unserer Kirche, wo die architektonische Gestaltung den Kirchenraum durch den Wechsel von Fenstern und Ziegelwand vom Altarraum trennt, steht unsere Kanzel. Sie ragt wie ein Balkon aus dem Altarraum in den Kirchenraum hinein und bildet so eine Brücke vom Heiligen zum Profanen. Nicht von oben herab wird hier gepredigt, wie man es aus alten Kirchen kennt; sie ist nur um drei Stufen erhöht, wie der Altarraum selbst. Aber damit hat sie auch das Niveau des Heiligen. Wer auf ihr steht, ist Grenzgänger, ja, er überschreitet und überbrückt die Grenze. Gottes Wort hat er im Gepäck, er soll es uns auslegen, übersetzen in Menschenworte. Darauf verweisen auch die drei Bronzetafeln, die die Kanzel schmücken. Sie wurden von der Hamburger Bildhauerin Ursula Querner (1921-1969) gestaltet und greifen auf eine Erzählung aus den Evangelien zurück.
Unsere Prediger haben einen klaren Auftrag: Sie sollen das Evangelium verkündigen, uns die frohe Botschaft mitteilen, und unter uns austeilen, damit wir gestärkt in die neue Woche gehen können. Von einer solchen Stärkung an Leib und Seele berichten uns die drei Bronzetafeln an der Kanzel; sie stellen die Predigt Jesu und das sich daran anschließende Speisungswunder dar.
Die Speisung der Fünftausend (Markus 6, 30 – 44)
„Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen und verkündeten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Und er sprach zu ihnen: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen. Und sie fuhren in einem Boot an eine einsame Stätte für sich allein. Und man sah sie wegfahren, und viele merkten es und liefen aus allen Städten zu Fuß dorthin zusammen und kamen ihnen zuvor. Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an. Als nun der Tag fast vorüber war, traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Es ist öde hier, und der Tag ist fast vorüber; lass sie gehen, damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich Brot kaufen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sprachen zu ihm: Sollen wir denn hingehen und für zweihundert Silbergroschen Brot kaufen und ihnen zu essen geben? Er aber sprach zu ihnen: Wieviel Brote habt ihr? Geht hin und seht! Und als sie es erkundet hatten, sprachen sie: Fünf und zwei Fische. Und er gebot ihnen, dass sie sich alle lagerten, tischweise, auf das grüne Gras. Und sie setzten sich, in Gruppen zu hundert und zu fünfzig. Und er nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie unter ihnen austeilten, und die zwei Fische teilte er unter sie alle. Und sie aßen alle und wurden satt. Und sie sammelten die Brocken auf, zwölf Körbe voll, und von den Fischen. Und die die Brote gegessen hatten, waren fünftausend Mann.“
Diese Geschichte ist eine Verkündigungsgeschichte. Eigentlich wollten sie sich zurückziehen und ein wenig ausruhen. Doch die Menschen laufen ihnen nach. Es ist ein großes Durcheinander. Jesus predigt lange. Diese Szene ist auf der vorderen Tafel abgebildet. Als Zeichen dafür, dass er nicht nur im Vorübergehen mit den Leuten spricht, sitzt er auf einem Stuhl. Er strahlt dadurch eine gewisse Ruhe aus, seine linke Hand ruht in seinem Schoß, und seine aufrechte, thronende Haltung verleiht im Würde und Autorität. Um ihn herum sind Männer, Frauen und Kinder, nur über ihm ist kein Mensch. Hier öffnet sich das Bild nach oben hin, zwischen ihm und dem Himmel ist nichts, der Zugang ist frei, von dort empfängt er seine Kraft, seine Autorität, das Wort Gottes, das er mit großzügiger Geste austeilt. Die meisten der Menschen um ihn herum haben ihre Blicke auf ihn gerichtet, einer stützt nachdenklich seinen Kopf in die Hand, ein anderer scheint mit ihm zu disputieren, ihm zu widersprechen. Die anderen lauschen ihm und vergessen darüber die Zeit.
Als sich der Tag neigt, drängen die Jünger Jesus, die Menge fortzuschicken, damit sie sich etwas zu essen kaufen können; die eigenen Mittel reichen nicht, um so viele Gäste zu bewirten – und die Vorräte erst recht nicht. Auch wir als Kirche machen immer wieder die Erfahrung der knappen Mittel. Nicht nur die Finanzen wünschen wir uns reichlicher, auch Prediger müssen die Grenzen ihrer Worte erkennen, sie können nicht alle satt machen. Nur fünf Brote haben die Jünger für so viele. Hier auf der gut sichtbaren linken Tafel sind sie abgebildet, drumherum lagern die Menschen in Gruppen (Jesus hat erstmal Ordnung in das Chaos gebracht). Geduldig warten sie darauf, dass die Jünger die Brote unter ihnen austeilen. Einige Wasserkrüge sehen wir auch. Mit dem lebensnotwendigen Getränk hatten sie sich wohl selbst versorgt. Und die beiden Fische? Die sehen wir auf der gegenüber liegenden Tafel, die unserem Blick abgewandt und ein wenig verborgen ist.
Warum? Was ist der Grund für die getrennte Darstellung? Lese ich den biblischen Text, leuchtet es ein, es ist dies: Die Brote erhalten die Jünger aus der Hand Jesu zum Austeilen; die Fische aber verteilt er selbst. Verblüfft war ich, als ich sah, dass die Künstlerin es gerade umgekehrt dargestellt hat: Die Brote werden bei ihr von einem (Jesus?) verteilt, wogegen der Teller mit den Fischen von zweien gehalten wird; und im Hintergrund über ihnen scheint Jesus zu stehen, der sie ihnen gegeben hat. Ist ihr dieser feine Unterschied in der Erzählung entgangen oder stützt sie sich auf die entsprechenden Erzählungen in den anderen Evangelien? Matthäus (Kap. 14,13-21) erwähnt weder die Predigt, noch die Austeilung der Fische und auch Lukas (Kap 9,10-17) differenziert nicht in seiner Darstellung. Johannes (Kap 6,1-15) weicht am meisten davon ab.
Dennoch möchte ich bei der biblischen Version bleiben, da ich sie theologisch viel interessanter finde: Der Fisch ist seit der frühesten Christenheit das Symbol für die christliche Gemeinschaft. Es ist ein altes Erkennungszeichen, mit dem die ersten Christen sich verständigten: In einem Haus mit diesem Zeichen lebten Christen. Indem Jesus die Fische austeilt, zeigt er, dass er selbst es ist, der Gemeinschaft stiftet und die Gemeinde aufbaut. Nicht die Jünger tun es durch das Verteilen des Brotes, nicht der Prediger durch die Verkündigung des Wortes, sie geben nur weiter, was sie empfangen haben. Die lebendige Gemeinschaft aber, die wirkt Christus selbst; das entzieht sich unserem Blick und geschieht im Verborgenen.
(© Text und Fotos: Anne Benz)